2005

Interview mit Sakyong Mipham Rinpoche (2005)

“Wir alle haben die Fähigkeit, unser Leben in die Hand zu nehmen und Vertrauen zu haben. Um dies zu erreichen, müssen wir stark sein. Stark ist das Gegenteil von aggressiv. Stark bedeutet, mit Weisheit und Mitgefühl zu handeln. Das mag schwierig klingen. Aber wenn man beginnt, die alten Weisheiten mit seinem täglichen Leben zu verbinden, erhält man beides – Spiritualität und weltlichen Erfolg.” Sakyong Jamgon Mipham Rinpoche

Kann ein Nicht-Buddhist Erleuchtung erlangen? 

Aber natürlich. Buddha war der erste Nicht-Buddhist, der erleuchtet wurde.

Was bietet Buddhismus den Menschen an? 

Ich denke, dass Buddhismus uns alle ermutigt, auf unser Leben zu blicken und Fragen zu stellen. Warum leben wir? Was ist Sinn und Zweck unseres Daseins? Warum werden wir als Menschen oft von Leid und den Anforderungen des Lebens überwältigt? Wie können wir damit umgehen?

Die buddhistischen Lehren zeigen uns, dass wir all dem nicht ohnmächtig ausgeliefert sind, sondern dass wir das Wissen und die Fähigkeit in uns tragen, unser Leben zu verändern. Die Art und Weise, wie wir mit unserem Geist umgehen, wie wir hier und heute denken, fühlen und handeln, beeinflusst unser Leben. In diesem Umgang liegt der Schlüssel zu einer großen transformierenden Kraft, die zur Quelle von wahrer Zufriedenheit und Freude führen kann. Der Buddhismus trifft direkt ins Herz der Dinge, ins Herz unseres Alltags. Und dies nicht nur oberflächlich, sondern auf sehr tief greifende Art und Weise. So gesehen ist er nicht notwendigerweise religiös, sondern äußerst praktisch und alltagstauglich. Oft sind buddhistische Werte allgemeingültige Werte. Buddhismus zeigt uns, wie wir unser Potential als Menschen voll ausschöpfen und werden können, was wir ohnehin schon sind.

Warum besteht im Westen eine so große Offenheit für den Buddhismus?

Ich glaube, weil der Buddhismus nicht nur eine Theorie über den menschlichen Geist ist, sondern zugleich praktische Anleitungen gibt, mit denen wir unseren Geist entwickeln und unser Herz aufwecken können. Über viele Generationen hinweg haben Menschen die Belehrungen studiert und über buddhistische Übungen ihr Leben erforscht. Ein gigantisches Experiment mit außerordentlichen Ergebnissen. Der Buddhismus hat überlebt, weil Menschen in Ost und West die Lehren angewendet und festgestellt haben, dass sie funktionieren. Im Westen herrscht viel Vertrauen in Wissenschaft und Begründungen. Der Buddhismus legt sehr viel Wert auf Begründungen; auf Klarheit und Wissen darüber, was man tut und warum man es tut. Er hält dazu an, zu verstehen, wer man ist und warum man etwas tut.

Heute sehen viele in Ihnen einen Mittler zwischen Ost und West. 

Seit früher Kindheit war ich beides: Tibeter und Westler. Meine schulische Erziehung erhielt ich einerseits von Tutoren, die mich zu Hause unterrichteten, und andererseits durch die Teilnahme am ganz normalen Unterricht in der Schule. Ich weiß, wie man sich als Westler
fühlt, und bin doch gleichzeitig ganz und gar ein Tibeter. Schon als kleiner Junge wusste ich, dass ich eine Rolle im Dialog von Ost und West spielen würde. Ich hatte bereits die Einweihungen für die Erziehung eines jungen Tulku erhalten, als mein Vater mich zu ihm in den Westen holte. Plötzlich mit westlichem Leben und westlicher Kultur konfrontiert, begann ein Prozess des Oszillierens zwischen Ost und West, der mehr als 20 Jahre dauerte. Ich denke, mein Vater wollte dies, damit ich aus der eigenen Erfahrung beide Kulturen gut verstehen konnte. Zunächst natürlich vor allem, um den Dharma in den Westen zu bringen. Heute bin ich aber zunehmend auch damit beschäftigt, den Dharma wieder in den Osten zurückzubringen.

Ihr Vater Trungpa Rinpoche war einer der ungewöhnlichsten, manche sagen, einer der wichtigsten buddhistischen Meister im Westen. Wie war ihr Verhältnis zueinander?

Mein Vater und ich hatten eine sehr enge, vielschichtige Beziehung. Auf der einen Seite waren wir uns als Vater und Sohn sehr nah. Als ich noch klein war und in Indien lebte, träumte ich von ihm und sah ihn einen Anzug und langes Haar tragen. Alle um mich herum dachten, ich sei verrückt, denn mein Vater war ein Mönch in Roben mit kurzem Haarschnitt. Doch ich hatte Recht. Mein Vater hatte tatsächlich aufgehört, sich den Kopf zu scheren und kleidete sich nach westlicher Mode. Als ich älter wurde, nahm meine Vater mir gegenüber zunehmend die Rolle des traditionellen Dharma-Lehrers ein: Er hatte genaue Vorstellungen und Pläne, was ich studieren oder praktizieren sollte, und er wusste immer, was ich tat.

Welche besondere Rolle spielte aus Ihrer Sicht Ihr Vater dabei, den Buddhismus in den Westen zu bringen? 

Mein Vater glaubte unerschrocken und von ganzem Herzen daran, dass die buddhistischen Lehren auch im Westen praktiziert und gelebt werden können. Er selbst hatte den Mut, sich ganz und gar für die westliche Kultur und die Art des westlichen Denkens zu öffnen. Dadurch konnte er vielen westlichen Menschen helfen, die Essenz der buddhistischen Lehren zu verstehen und praktisch in ihrem Lebensalltag anzuwenden, ohne dabei ihre eigene Kultur und Weisheit vergessen zu müssen.

Sie repräsentieren die Shambhala Linie, was ist darunter zu verstehen? 

Die Shambhala-Kultur geht davon aus, dass ein ganz normales Leben mit Arbeit, Partner, Kindern und ein spiritueller Weg, um Erleuchtung zu erlangen, sich nicht widersprechen oder ausschließen. Ein ‚normales’ Leben enthält alles, um weise und mitfühlend zu werden. Man verlässt die Welt nicht, sondern arbeitet in und mit ihr und sich selbst. Die Shambhala-Kultur weist immer wieder auf grundlegende ‚Gutheit’ hin, auf erleuchtete Qualitäten, die wir als Menschen besitzen und in jedem Augenblick unserer Erfahrung aufwecken können. Wir erkennen unsere eigene und die uns umgebende Gesundheit und können so gesellschaftliche Veränderungen bewirken. Die Shambhala-Tradition enthält Belehrungen über Furchtlosigkeit, die zeigen, wie man auch angesichts größter persönlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen Lebensenergie erweckt und eine wache, klare und mitfühlende Haltung in alle Lebensumstände einlädt, um so Hindernisse oder Aggression und Verwirrung zu überwinden.

Sie machen Krafttraining und treiben viel Sport, eher ungewöhnlich für einen Rinpoche.

Ich habe sportliche Aktivitäten immer geliebt. Ich betreibe sie nicht nur aus Vergnügen, sondern sie spielen für mich als spirituellen Lehrer eine wichtige Rolle. Geist und Körper sind untrennbar miteinander verbunden. Um mit einem klaren und ruhigen Geist verweilen zu können, ist es hilfreich, einen gesunden Körper zu haben.