Über Meditation

Sakyong Mipham Rinpoche

sakyong023-588x364

Alle buddhistischen Traditionen pflegen die Praxis der Achtsamkeits – Gewahrseins – Meditation. Darüber hinausgehend ist Achtsamkeit und Gewahrsein allen Menschen gleich zu Eigen. Während der Meditation entdecken wir fortlaufend, wer und was wir sind. Das kann ziemlich beängstigend oder auch ziemlich langweilig sein, aber nach einer gewissen Zeit fällt das alles von uns ab. Wir geraten in eine Art natürlichen Rhythmus und entdecken unser Bewusstsein und unser Herz. 

Oft haben wir die Vorstellung, Meditation sei eine Art nicht-alltägliche, heilige, oder spirituelle Praxis. Dies ist eine der Grundannahmen, die wir während unserer Praxis überwinden müssen. Der Punkt ist, dass Meditation eine ganz normale Angelegenheit ist: wir haben es mit der Qualität von Achtsamkeit zu tun, die ohnehin in allem, was wir tun, anwesend ist. 

Das Wichtigste, was der Buddha herausgefunden hat war, dass er er selbst sein konnte, und zwar voll und ganz, hundertprozentig. Er hat Meditation nicht erfunden, es gab nichts Spezielles zu erfinden. Der Buddha, der „Erwachte“, wachte auf, und es wurde ihm klar, dass er nichts anderes zu sein hatte, als er ohnehin schon war. In den gesamten buddhistischen Belehrungen geht es also darum, herauszufinden, wer wir sind. 

Es ist eigentlich sehr direkt und geradeheraus, aber wir werden ständig davon abgelenkt, in unserem natürlichen Zustand, unserem natürlichen Sein, zu verweilen. Im Laufe unseres Tages treibt uns alles von natürlicher Achtsamkeit, von Im-Moment-Sein, weg. Wir sind entweder zu ängstlich, zu verlegen, zu stolz oder zu verrückt, um einfach zu sein, wer wir sind. Das nennen wir die Reise oder den Weg: ständig versuchen zu erkennen, dass wir uns entspannen können und sein können, wer wir sind. 

Meditationspraxis fängt also damit an, dass wir alles vereinfachen. Wir sitzen auf dem Kissen, folgen unserem Atem und beobachten unsere Gedanken. Wir vereinfachen unsere gesamte Situation.Die Grundlage dieser speziellen Reise ist Achtsamkeits-Gewahrseinspraxis, Sitzmeditation. Solange wir nicht in der Lage sind, mit unserem Geist und unserem Körper in einer sehr einfachen Art und Weise umzugehen, brauchen wir gar nicht erst an die Praktiken der höheren Ebenen zu denken. 

Der Buddha, der alle möglichen Praktiken ausgeübt hatte, wurde nur dadurch zum Buddha, dass er saß. Er saß unter einem Baum und bewegte sich nicht. Er praktizierte genau so, wie wir es jetzt tun. Es geht hier darum, unseren Geist zu zähmen. Wir versuchen alle möglichen Befürchtungen und Aufregungen, alle möglichen Gewohnheitsmuster zu überwinden, damit wir einfach mit uns selbst dasitzen können. 

Das Leben ist kompliziert, wir haben so ungeheuer viele Verantwortlichkeiten, aber der springende Punkt ist, dass wir total still sitzen müssen, um mit dem Fluss unseres Lebens in Verbindung zu bleiben. Es mag einem logischer vorkommen, immer schneller zu werden, aber hier reduzieren wir alles auf ein sehr einfaches Niveau. 

Wir zähmen den Geist, indem wir die Technik der Achtsamkeit anwenden. Einfach ausgedrückt besteht Achtsamkeit darin, allen Einzelheiten völlige Aufmerksamkeit zu schenken. Wir sind völlig von dem Gefüge unseres Lebens, von der Beschaffenheit eines jeden Augenblicks vereinnahmt. Uns wird klar, dass unser Leben aus einzelnen Momenten besteht, und dass wir immer nur mit einem Moment nach dem nächsten umgehen können. Obwohl wir Erinnerungen an die Vergangenheit und Vorstellungen über die Zukunft haben, erfahren wir doch immer nur den gegenwärtigen Moment. Dies ist die einzige Möglichkeit, unser Leben voll und ganz zu erfahren. 

Vielleicht glauben wir, unser Leben wäre reicher, wenn wir über Vergangenheit und Zukunft nachdenken, aber wenn wir der gegenwärtigen Situation keine Aufmerksamkeit schenken, verpassen wir unser Leben. Wir können an der Vergangenheit nichts mehr verändern, selbst wenn wir sie wieder und wieder in Erinnerung rufen, und unsere Zukunft liegt völlig im Ungewissen. Achtsamkeitspraxis ist also die Praxis des Lebendig-Seins, des Am-Leben-Seins. 

Wenn wir über Meditationstechniken sprechen, dann sprechen wir über Lebenstechniken. Wir reden nicht über etwas von uns Getrenntes. Wenn wir davon reden achtsam zu sein und in einer achtsamen Weise zu leben, dann sprechen wir über die Praxis der Unmittelbarkeit oder Spontaneität.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier nicht darum geht, irgendeine höhere geistige Ebene zu erreichen. Wir sagen nicht, dass unsere gegenwärtige Situation wertlos ist. Stattdessen sagen wir, dass uns die gegenwärtige Situation völlig zur Verfügung steht, dass sie völlig offen ist, und dass wir dies mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis erkennen können.